Von einem Gott, dem wir genügen – Teil 3: Nathanael

Und dann folgt da noch ein weiterer Jünger, der so eine interessante, wenn auch weniger bekannte Geschichte mit Jesus hat: Nathanael. Den meisten kommt der Name zwar bekannt vor, aber einige kennen diesen Jünger auch gar nicht. Das ist kein Wunder, denn dieser Name kommt nur an zwei Stellen im Johannesevangelium vor – in diesem Bericht über die Begegnung mit Jesus am See und ganz zu Beginn des Wirkens Jesu. Dort wird berichtet, wie Nathanael Jesus kennenlernt. Am Tag, nachdem Andreas seinen Bruder Petrus Jesus vorgestellt hat (Joh 1,35- 42), will Jesus nach Galiläa aufbrechen (Joh 1,43f.). Auf dem Weg trifft er Philippus, der aus derselben Stadt kommt wie Andreas und Petrus, und beruft ihn in die Nachfolge (Philippus wird übrigens auch einer der Zwölf, wie wir in allen Auflistungen lesen!). Philippus wiederum ist so ergriffen, dass er seinen Freund Nathanael aufsucht, um ihm von Jesus zu erzählen. Aber Nathanaels Reaktion ist nicht ganz so, wie Philippus es sich erhofft:

Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh! (Joh 21,45-46)

Nathanael ist so menschlich und nahbar – er spricht die Vorurteile aus, die so viele im Umfeld Jesu hatten. Er selbst kommt aus Kana, einer Stadt etwas westlich vom See Genezareth gelegen. Er kennt die verschiedenen Gebiete und Leute. Zur Zeit Jesu ist das Nordreich etwas in Verruf geraten unter „guten Juden“, unter den Menschen, die etwas auf sich halten. Das hat etwas mit der sehr tragischen Geschichte des Nordreichs Israel zu tun: Ein Großteil des Volkes wurde ins Exil verschleppt und es wurden ausländische Menschen dort angesiedelt. So vermischten sich die übrig gebliebenen Israeliten mit den neuen Bewohnern und der biblische Glaube wurde verwässert und teilweise etwas abgeändert. Mit der Zeit entstand eine mehr oder weniger subtile Entfremdung zwischen dem judäischen Süden um Jerusalem und dem Norden, vor allem dem samaritanischen Gebiet. Galiläa liegt über Samaria und dort wird vor allem Viehzucht und Landwirtschaft betrieben, weshalb Menschen aus dem kulturellen Hochland des Südens auf den Norden auch noch herabschauen. Als Bewohner des Nordens weiß Nathanael um diese Vorurteile und vielleicht hat er sie sogar geglaubt (wie es leider oft ist, wenn Vorurteile, auch über einen selbst, lange genug geschürt werden). Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Anscheinend ist Nazareth auch noch besonders in Verruf geraten. Wir wissen nicht, warum, aber offen- sichtlich war für Nathanael klar: Wenn der Messias kommt, dann gewiss nicht aus dem Norden und noch weniger aus Nazareth! Aber Philippus ist überzeugt – und so folgt Nathanael seiner Aufforderung und schaut sich diesen Jesus aus Nazareth selbst an.

Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. (Joh 1,47)

Wir müssen hier bedenken, dass Jesus und Nathanael sich vorher noch nie begegnet sind. Und sobald Jesus ihn kommen sieht, nennt er ihn einen rechten Israeliten, in dem kein Falsch ist. Für uns heute klingt es etwas komisch und zusammenhanglos, dass Jesus Nathanael mit diesen Worten anspricht. Aber es ist wahrscheinlich, dass Jesus sich mit diesen Worten auf einen Psalm bezieht (womit er schon mal das Vorurteil der nicht vorhandenen Bildung angeht): Wohl dem Menschen, dem der HERR die Schuld nicht zurechnet, in dessen Geist kein Falsch ist! (Ps 32,2) Dieser Vers gibt das Ideal eines gottesfürchtigen Menschen wieder – und Jesus bezeichnet Nathanael als einen solchen Menschen, der ohne Falsch ist… Ohne dass die beiden sich vorher je getroffen hätten. Schon im damaligen Judentum herrschte eine enorme Bildung vor: Im ganzen Land (sogar unter Juden, die im Ausland lebten) gingen schon die kleinen Kinder in die Synagogen und lernten die Schrift auswendig. Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass Nathanael die Bibelstelle und vor allem dieses Ideal eines gottesfürchtigen Menschen kennt. Aber weil er Jesus nicht kennt, ist er verwirrt, wie dieser ihn so ansprechen kann:

Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. (Joh 21,48)

Die Antwort Jesu auf Nathanaels Frage, woher er ihn kennt, ist verwirrend und erstaunlich zugleich: Er hat Nathanael gesehen. Das Besondere an dieser Aussage ist das Verb, das Jesus verwendet, um zu sagen, dass er Nathanael gesehen hat. Im Griechischen gibt es drei Wörter, die den Akt des Sehens beschreiben. Während zwei davon wirklich das bloße Sehen im Sinne von Schauen und Erblicken von etwas meinen, nimmt Jesus hier das Wort, das ein tieferes Sehen einschließt: Es geht um ein tieferes Wahrnehmen dessen, was man sieht, um ein Erfahren, sogar Erkennen und Kennenlernen. Diese ganzen Übersetzungsnuancen zeigen, wie Jesus Nathanael gesehen hat: Er hat ihm nicht bloß einen kurzen Blick zugeworfen und gesehen, dass da ein jüdischer Mann unter einem Baum sitzt, sondern er hat ihn gesehen – er hat in sein Herz geschaut und ihn als den Menschen erfasst, der er ist. Das ist eine Art des Sehens, die wir nur von Gott kennen. Als derjenige, der uns geschaffen hat, kennt er uns durch und durch, und wenn er uns ansieht, dann bleibt ihm nichts verborgen – er sieht all das, was er in uns hineingelegt hat, aber auch unsere tiefsten Gedanken, Hoffnungen, Sehnsüchte und auch unsere Ängste und Befürchtungen. Als Nathanael zu erfassen beginnt, was Jesus da sagt, ruft er:

Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. (Joh 21,49-51)

Wir lesen von Nathanaels Namen erst wieder am Ende des Johannesevangeliums, als er mit den anderen Jüngern am See ist und auf Jesus wartet. Es spricht aber einiges dafür, dass Nathanael mit Bartholomäus zu identifizieren ist, der in jeder Auflistung als einer der Zwölf direkt nach Philippus genannt wird (Mt 10,3; Mk 3,18; Lk 6,14). Er wäre dann vermutlich zumeist mit seinem Vaternamen bezeichnet worden (der aramäische Name Bar-Tholmai bedeutet Sohn von Tolmai) und nicht nach seinem Herkunftsort Kana, da schon der zweite Simon als Kanaanäer bezeichnet wurde. Es wird sogar vermutet, dass Nathanael Bar-Thomlai ein Schriftgelehrter war. Der Überlieferung nach hat Bartholomäus, der auch zu Beginn der Apostelgeschichte mit den anderen erwähnt wird, nach Jahrzehnten der Mission sein Leben gelassen. Aber auch, wenn uns von Nathanael Bartholomäus nicht viel überliefert ist, wissen wir, dass er dabeigeblieben ist – und so wartet er in Joh 21 auf Jesus, zusammen mit Petrus und Thomas. Und mit den beiden Zebeädenbrüdern.

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