Die Schönheit von Palmsonntag

Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes und ihre Freunde fangen an zu schwitzen, als sie die steinigen Wege durch das judäische Bergland hinaufgehen. Obwohl es noch früh am Morgen ist, wird es schnell warm, und der Boden unter ihnen staubt, aber das ist völlig normal für diese Jahreszeit, denn ist der 9. Nissan und das heißt – in 5 Tagen beginnt das Passahfest.1Laut Joh 12,1 kommen die Jünger mit Jesus sechs Tage vor dem Passahfest in Bethanien an. Das Lieblingsfest ihres Rabbis Jesus, und das ist genau der Grund, warum sie gerade unterwegs sind: Jedes Jahr zieht Jesus nach Jerusalem, um das Passahfest zu feiern. Dieses Fest der reinen Freude und Dankbarkeit. Passah ist Hebräisch und bedeutet „Vorübergehen“und genau daran denken die Juden jedes Jahr: Dass der Tod an ihnen vorübergegangen ist. Als sie noch Sklaven in Ägypten waren, schickte Gott die zehnte und letzte Plage, um sein Volk zu befreien. Die Juden wurden von Mose beauftragt, ein makelloses Lamm zu schlachten und die Türpfosten mit dem Blut zu bestreichen – ein Zeichen dafür, dass der Tod sie nicht anrühren dürfte. So rettete Gott sie und schloss den Bund mit seinem erwählten Volk. Ungefähr 1300 Jahre lang haben die Israeliten nun schon Passah gefeiert, als Jesus seine Jünger durch das staubige Bergland führt, und wie jedes Jahr kommen zahlreiche Juden in die Stadt des Tempels, um Gott zu danken und den Bund zu feiern. Zu Passah ist Jerusalem mitsamt den umliegenden Städten und Dörfern vollkommen überfüllt, aber Jesus hat für alles vorgesorgt: Vor einigen Tagen schon hatten sie sich auf sein Geheiß hin von Galiläa aus auf den Weg gemacht und gestern sind sie dann endlich in Bethanien angekommen, einem Dorf am Osthang des Ölbergs. Der Berg liegt, nur getrennt durch ein Tal, direkt gegenüber vom Tempel in Jerusalem und auf der anderen Seite des Bergs, auf dem Osthang, liegt Bethanien. Ein kleines Dorf, unscheinbar, aber die Jünger haben es lieben gelernt in den letzten Jahren. Denn dort wohnen drei Freunde, die eine besonders enge Freundschaft mit Jesus verbindet: Lazarus und seine Schwestern Marta und Maria.2Den Bericht über Lazarus´ Tod und die Geschehnisse darum findest Du in Joh 11, den über die Schwestern zusätzlich in Lk 10,38-42. Natürlich haben die drei zugesagt, als Jesus mit seinen Jüngern darum bat, bei ihnen schlafen zu können – ein perfektes Quartier für die Feiertage.

Als die verstaubte Gruppe gestern die letzten Kilometer nach Bethanien hinaufging, ließen die Jünger ihre Gedanken schweifen. Es war noch gar nicht so lang her, dass sie das letzte Mal diesen Weg gegangen sind, erst ein wenige Monate. Normalerweise hatten sie sich immer gefreut, wenn Jesus wieder verkündete, dass sie Lazarus und seine Schwestern besuchen würden: Lazarus war ein toller Freund, Marta hatte immer leckeres Essen auf dem Tisch und Maria war herrlich unbekümmert in der Gegenwart des Rabbis. Doch dieses Mal vor einigen Wochen lachten sie nicht und sie freuten sich nicht auf das Essen – denn Lazarus war an einer sehr kurzen, aber heftigen Krankheit gestorben. Und Jesus war nicht dagewesen. Er war nicht dagewesen, um es zu verhindern, und sie alle wussten, dass er es gekonnt hätte. Als sie vier Tage nach der Beerdigung in Bethanien ankamen, war das ganze Dorf von Trauergästen gefüllt. Totenstille trat ein, als Jesus der weinenden Marta gegenüberstand. Er ließ sie weinen, er ließ sie klagen, und dann sagte er die Worte, die sie einfach nicht mehr vergessen konnten, Worte, die sie nicht verstanden, aber die ihr Herz trotzdem brennen ließen: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Er wird ewig leben, weil er an mich geglaubt hat, und niemals sterben. Glaubst du das? (Joh 11,25f.) Und dann war es passiert: Jesus hatte das Grab, das schon vier Tage verschlossen war, öffnen lassen und den Namen seines Freundes gerufen – und Lazarus begann, wieder zu atmen.
Als Jesus gestern mit seinen Jüngern in Bethanien ankam, war es eine fröhliche Zeit. Sie alle konnten immer noch nicht ihren Augen trauen, als sie Lazarus lachend vor sich sahen, ihn berührten und mit ihm sprachen. Viele überwältigende Dinge hatten sie in ihrer Zeit mit Jesus gehört und gesehen – aber das, das hat alles übertroffen und etwas verändert. Sie konnten es alle fühlen. Es lag eine Spannung in der Luft, die sie nicht ganz benennen konnten, und doch war sie beinahe greifbar. Diese Spannung wurde nur noch stärker, als sie gestern beim Abendessen zusammensaßen und Maria plötzlich anfing zu weinen. Normalerweise saßen die Frauen nicht bei den Männern am Tisch, vor allem wenn Gäste da waren, aber wie so oft kümmerte das Maria wenig, wenn sie Jesus sah. Sie ging zu ihm hin, kniete vor ihm nieder, öffnete ein kleines Fläschchen mit teurem Salböl, dessen Duft den ganzen Raum erfüllte, und salbte Jesu Füße damit. Nach einer kurzen, unangenehmen Stille begannen die Männer, sich aufzuregen. Judas platzte fast der Kragen. Aber Jesus nahm Maria in Schutz. Als die Männer ihn verdutzt anschauten, sahen sie, dass er Tränen in den Augen hatte. Und er sagte: „Lasst sie! Sie hat es als Vorbereitung für mein Begräbnis getan. Die Armen habt ihr immer bei euch, aber ich werde nicht mehr lange bei euch sein.“ (Joh 12,7f.)

All das lassen die Jünger Revue passieren, als sie am nächsten Morgen Bethanien verlassen und den Ölberg weiter hinaufsteigen. Früh hat Jesus sie geweckt, denn er will heute nach Jerusalem. Es ist kein weiter Weg von Bethanien bis zum Kamm des Ölbergs, aber es ist anstrengend, steil und steinig, und als die Männer hinter Jesus hergehen, hängen sie wieder ihren Gedanken nach.
Drei Jahre. Drei Jahre sind sie nun schon mit Jesus unterwegs. Drei Jahre, in denen sie Dinge gesehen haben, die sie nie für möglich gehalten hätten, in denen sie Dinge gehört haben, die sie nie zu hoffen gewagt hätten. Befreiung, Heilung, Neuanfänge, Vergebung, bedingungslose Liebe, Ehrlichkeit, Annahme – all das haben sie selbst und so viele andere Menschen in Jesus gefunden, in diesem Mann, dessen Stimme Naturgewalten zum Schweigen bringen kann, der auf dem Wasser geht, der ein paar Brote und Fische vermehrt, sodass weit über Zehntausend Menschen satt werden, der Menschen an Leib und Seele verändert und neu macht. Manchmal zogen ihnen zehntausende Menschen nach, ganze Dörfer und Städte gerieten in Aufruhr, wenn bekannt wurde, dass Jesus in die Gegend kam.
Aber mit der Zeit wurden auch die anderen Stimmen lauter: Die Stimmen der Menschen, die glaubten, dass Jesus nur einer von vielen war, nur ein besonderer Mann, allerhöchstens ein Prophet, aber nicht mehr. Die Stimmen derer, die ihn als Konkurrenz sahen und neidisch auf die Menschenmassen schauten, die Jesus hinterherzogen. Und die Stimmen derer, die Angst hatten – Angst, dass Rom den Menschenansammlungen nicht stillschweigend zuschauen, sondern die Juden zum Schweigen bringen würde.  Denn seit fast 100 Jahren war Rom im Land und unterdrückte Israel. In den letzten Jahrzehnten hat es immer wieder Menschen gegeben, die als Retter gefeiert wurden, und jedes Mal hat Rom reagiert – hat brutal Menschenansammlungen niedergeschlagen, zur Bestrafung manchmal tausende von Männern an einem einzigen Tag gekreuzigt. Denn einen Aufstand dudelt Rom nicht. Und so werden die Stimmen derer lauter, die Jesus zum Schweigen bringen wollen, bevor so etwas wieder geschieht. Und dann sind da noch Jesu eigene Andeutungen: Immer wieder in den letzten Wochen hat er davon gesprochen, dass der Menschensohn sterben müsse. Und dazu passte diese merkwürdige Andeutung von gestern Abend, dass Maria ihn für sein Begräbnis salbte. Was sollen sie damit anfangen? Warum sollte er sterben, warum spricht er davon, dass es sein muss? Er bringt doch das Heil Gottes, warum sollte etwas schiefgehen?

 

Die wirren Gedanken der Jünger finden ein jähes Ende, als Jesus stehen bleibt und die Männer fast ineinanderlaufen. Sie halten inne und sehen, wie Jesus seinen Blick über die Gegend schweifen lässt und ein Lächeln sein Gesicht aufhellt. Vor ihnen fällt der Ölberg in sanften Hängen ab, voll mit Olivenhainen, die dem Berg seit Jahrhunderten seinen Namen geben. Unten im Tal glitzert in der Morgensonne der Bach Kidron, der sich zwischen Steinen und Felsen hindurchschlängelt. Und auf der anderen Seite liegt sie: Jerusalem auf dem Berg Zion. Die goldene Stadt wird sie auch genannt, denn sie ist aus dem berühmten goldgelben Sandstein gebaut, der in der Sonne warm-golden leuchtet. Und die Goldverzierungen des massiven Tempelgebäudes blitzten in der Morgensonne.
Doch als die Männer da stehen, schießen ihnen auch andere Gedanken durch den Kopf – denn diesen Anblick hat es nicht immer gegeben. Und der Berg, auf dem sie stehen, ist für die Juden ein Ort der Trauer und des menschlichen Versagens. Die traurige Geschichte des Berges begann damit, dass ungefähr 1.000 Jahre vorher, vor der Geburt Jesu, der von Gott erwählte König David vor seinem Sohn fliehen musste.3Den Bericht findest Du in 2Sam 15-19. Absalom war ein gewalttätiger und erbarmungsloser Mann, ganz anders als sein Vater suchte er nicht den Willen Gottes, sondern seinen eigenen Ruhm. Er wollte seinen Vater stürzen und startete eine blutige Revolte im Palast in Jerusalem. David musste fliehen und die Stadt verlassen – und er zog über den Ölberg und weinte, als er sein Volk und die Bundeslade mit der Gegenwart Gottes in der Stadt, die er einst erobert hatte, zurücklasse musste. Die Geschichte fand eine schnelle, aber nicht undramatische Wendung, als Absalom starb und David zurückkehren konnte – und doch schien sie wie eine Vorahnung dessen zu sein, was kommen würde. Salomo4Die Berichte über Salomo findest Du in 1Kön 1-11 und 1Chr 22-2Chr 9. wurde Jahre später Davids Nachfolger – „Sein Friede“ bedeutet der Name übersetzt, ein Hoffnungsträger für David und Israel, denn Frieden sollte er bewahren. Frieden im Volk, Frieden für das Land und Frieden mit Gott durch den Bund. Und seine Zeit begann so ruhmreich: Er baute den Tempel und regierte das Volk weise und mit Liebe. Doch hatte er eine Schwäche für heidnische Frauen, die andere Götter anbeteten – und für eine von ihnen baute er auf dem Ölberg den ersten Götzenaltar.52Kön 11,7 Damit begann der große Fall und über Jahrhunderte entfernte sich das Volk immer weiter von Gott. Gott warnte sie, nutzte alles, um sie zur Umkehr zu bewegen: Wunder und Zeichen, Strafe und Gericht, Könige und Propheten – aber nichts half. Und so ließ Gott das selbstgewählte Gericht zu. Aber dafür – musste er gehen. Der Prophet Hesekiel, der schon in einer ersten Deportationswelle 605 v.Chr. nach Babylon kam, wurde in einer Vision6Die Vision findest Du in Hes 8-11. von Gottes Geist in den Tempel gebracht und Gott zeigte ihm dort ein letztes Mal die Schuld des Volkes. Und Hesekiel sah, wie die Gegenwart Gottes, die bis dahin im Allerheiligsten des Tempels gewohnt hatte, sich erhob, den Tempel verließ und auf den Ölberg zog. Dort verharrte Gottes Gegenwart einen Moment, als würde Er trauernd innehalte, bevor Er die Stadt verließ. Kurze Zeit später, nach dieser Vision bekam Hesekiel die Botschaft in Babylon, dass Jerusalem gefallen war.7Hes 33,21-22 Auch vom Ölberg aus hatten die Feinde angegriffen, die Stadtmauern niedergerissen und den Tempel in Brandt gesteckt. Und die Juden, die das Massaker überlebten und nach Babylon verschleppt wurden, mussten Jerusalem über den Ölberg verlassen.82Kön 25,8ff.; 2Chr 36; Jer 39,1-10 u. 52 Dort, wo Gottes Gegenwart einen Moment verharrt hatte, warfen sie nun einen letzten Blick zurück auf die zerstörte Stadt und die rauchenden Ruinen des Tempels.
Aber verlassen hat Gott sie nicht. Nein, auch wenn sie den Bund gebrochen hatten, war er immer bei ihnen, auch im Exil. Gott hielt sein Versprechen und brachte sie nach 70 Jahren nach hause zurück, sie bauten den Tempel und die Stadt wieder auf. Aber nie ist die Gegenwart Gottes so machtvoll wieder ins Allerheiligste eingekehrt, wie damals in den ersten Tempel.9Die Berichte dazu findest Du in den Büchern Haggai und Sacharja, Esra und Nehemia. Und so warteten die Juden – denn Gott hatte durch seine Propheten verheißen, dass er wiederkommen würde – und zwar auf dem Ölberg.10Zum Beispiel in Sach 14,4 und Hes 43. Und so wurde der Berg zum Zeichen der messianischen Hoffnung.

 

Die Jünger reißen sich los vom Anblick des goldenen Tempels und ihren Gedanken und wollen gerade dem Weg hinab in das Kidrontal folgen, als Jesus sich an zwei seiner Jünger wendet und sie alle überrascht: „Geht in das Dorf dort“, sagte er, „dort werdet ihr eine Eselin angebunden sehen und bei ihr ein Fohlen. Bindet die beiden los und bringt sie her. Wenn jemand fragt, was ihr da tut, dann sagt nur: `Der Herr braucht sie´, und man wird sie euch mitgeben.“ (Mt 21,2-3) Verdutzt starren die Männer sich an: Wofür braucht Jesus einen Esel? Ihr ganzes Gepäck haben sie bei Marta gelassen, denn sie wollen zum Einbruch der Dunkelheit wieder in Bethanien sein. Zweifelnd schauen die beiden angesprochenen Jünger ihren Rabbi an, aber der lächelt nur. Eigentlich sollte sie mit Jesus nichts mehr überraschen. Der Ausdruck in seinen Augen ermuntert sie, ihm zu vertrauen – wie jeden Tag in den letzten drei Jahren, in denen sie alles für diesen Mann hinter sich gelassen haben.11Die Berichte über diese und die kommenden Geschehnisse findest Du erstaunlich detailliert in Mt 21,1-11; Lk 19,28-44; Joh 12,12-19.
Und so machen die beiden sich auf den Weg zum Dorf auf dem Kamm des Ölbergs, Bethphage heißt es. Und tatsächlich: Am Rand des Ortes sehen sie eine Eselsstute mit einem Jungen, die vor einem kleinen Haus angebunden sind. Zögernd gehen die beiden auf die Tiere zu. Nicht weit davon steht eine kleine Menschengruppe, die sich unterhält und sie beobachtet, während sie bei den Tieren ankommen. Unbeholfen bleiben die beiden stehen und nach einem tiefen Atemzug binden sie die Tiere los. Wie Jesus angekündigt hat, kommt ein groß gewachsener Mann aus der Gruppe auf sie zu, der wohl der Besitzer ist. Die Jünger erkennen ihn wieder – er war bei der Trauerfeier für Lazarus dabei, wie jeder andere aus dem kleinen Gebiet und den Nachbardörfern von Bethanien auch, denn jeder kennt hier jeden. Und er war dabei, als Lazarus aus seinem Grab hervortrat. Der Mann scheint sie auch wiederzuerkennen, denn unaufgeregt fragt er sie, was sie vorhaben. Sie antworten: „Der Herr braucht sie.“ Der Mann schaut sie einen langen Augenblick an und nickt. Sie bedanken sich und als sie sich mit den Tieren umwenden, hören sie nur, wie der Mann leise murmelt: „Juble laut, du Volk von Zion! Freut euch, ihr Bewohner von Jerusalem! Seht, euer König kommt zu euch.“ Wieder schauen die beiden Jünger sich an, als sie mit den Eseln zurück zu Jesus gehen. Jeder Jude kennt diese Worte. Der Prophet Sacharja hat sie vor über 400 Jahren gesprochen, als das Volk aus dem Exil zurückkehrte und den Tempel wieder aufbaute. Als Salomo damals zum Nachfolger Davids gesalbt worden war, hatte man ihn auf einem Esel in die Stadt geführt – ein Symbol, dass er den Frieden bringen und bewahren würde. Aber auch er war nur ein Mensch, der sein Bestes gab, der aber eben nicht ohne Schuld und Fehler war. Seit jeher war ein neuer König vorausgesagt worden, ein Nachkomme Davids, einer, der nicht fallen würde, sondern der ein gerechter König sein würde, ein König, der wirklichen Frieden bringen würde. Und so wartete Israel seit 900 Jahren auf den Nachkommen Davids, der der wahre Friedensbringer, der Fürst des Friedens wäre, wie Jesaja es ausgedrückt hatte.12Jes 9,1-6 Und einen solchen Friedefürst braucht das jüdische Volk zur Zeit Jesu mehr als je zuvor. Einen König, der das Joch der Unterdrücker zerbrechen würde. Die beiden Jünger fangen an, die Worte Sacharjas zu zitieren: „Juble laut, du Volk von Zion! Freut euch, ihr Bewohner von Jerusalem! Seht, euer König kommt zu euch. Er ist gerecht und siegreich, und doch ist er demütig und reitet auf einem Esel – ja, auf dem Fohlen eines Esels, dem Jungen einer Eselin.“13Sach 9,9

Als die Männer mit den Eseln bei Jesus ankommen, hat sich eine große Menschenmenge um Jesus herum geschart, wie jeden Tag. Alle wollen sie zu ihm, von ihm hören, sich von ihm segnen lassen, ihn berühren. Als er die beiden Männer mit den Tieren sieht, kommt er ihnen entgegen und lächelt. Während er die Esel streichelt, kommen die anderen Jünger dazu, ziehen ihre Obergewänder aus und legen sie auf den jungen Esel. Jesus führt ihn zum Weg, der vom Ölberg nach Jerusalem herunterführt und setzt sich auf das Tier. Nun wird sein Gesicht ernst, seinen Augen haben einen sehnsuchtsvollen Ausdruck, als er auf die Heilige Stadt und den goldenen Tempel blickt. Und nach einem tiefen Atemzug beginnt er seinen Abstieg Richtung Jerusalem.
Waren vorher noch alle still und warteten auf etwas, was sie nicht benennen konnten, scheint nun der Bann zu brechen: Die Menschenmenge läuft an dem Esel vorbei und fängt laut an zu rufen. Anscheinend sind einige schon nach Jerusalem vorgelaufen, denn plötzlich kommen zahlrieche Menschen aus dem Stadttor gelaufen, rennen ihnen entgegen mit Palmenzweigen in der Hand. Die Jünger erkennen viele der Gesichter wieder: Menschen, die sie in den drei Jahren gesehen haben, die Jesus geheilt hat, die er gelehrt hat, die er geliebt hat. Manche, die mit vom Ölberg hinunterziehen, schneiden eilig grüne Zweige an den im Frühling blühenden Bäumen ab, schwenken sie vor Jesus oder legen sie am Weg entlang aus. Manche ziehen ihre Obergewänder aus und legen sie auf den Weg, über den Jesus reitet, ein Zeichen der Ehrerbietung, die sonst nur ein König bekommt. Ihre Rufe sind Kilometer weit zu hören, denn die Stimmen hallen im Kidrontal und von den Stadtmauern wider. Laut fangen einige an, Psalmen zu singen: Friede in der Höhe und Ehre im höchsten Himmel!14Ps 148,1. Und: Gepriesen sei der König, der im Namen des Herrn kommt!15Psalm 118,26 Gepriesen sei das kommende Königreich unseres Vaters David!16Mk 11,10 Andere erzählen sich laut, manche lachend, manche weinend von den Wundern, die sie über die Jahre gesehen haben, die Zeichen, die Jesus vollbracht hat und rufen: Hosanna dem Sohn Davids! Hosanna in der Höhe!17Mt 21,9
Eine unermessliche Freude scheint die Menge erfasst zu haben – und trotz der Verwirrung, die die Jünger in den letzten Wochen erlebt haben, und obwohl sie all das, was gerade passiert, nicht ganz durchdringen können, überträgt sich die Freude auf die Jünger. Auch sie fangen an zu lachen, sie schauen bewegt auf Jesus, der die Menschen anlächelt, sie begrüßt, als würde er sie schon ewig kennen, und immer wieder gleitet sein Blick auf das Stadttor am Osthang. Hunderte Menschen rennen mittlerweile um sie herum. Mit ernster Miene laufen einige Pharisäer auf sie zu. Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Was würde passieren, wenn das hier zu einem Aufstand gegen Rom werden könnte? Was würden die Soldaten tun, wenn sie hörten, dass hier jemand als König besungen und gepriesen wird? Sie wollen den Esel anhalten, aber die Jünger halten sie fern. Die Pharisäer rufen ärgerlich: „Meister, rufe deine Jünger zur Vernunft!“18Lk 19,39 Aber Jesus schaut sie nur an und sagt: „Würden sie schweigen, dann würden die Steine schreien!“19Lk 19,40

Die Bibel ist lebendig. Und sie ist ein lebendiges Zeugnis von dem, was Gott getan hat – und was noch kommen wird. Jesu Einzug nach Jerusalem läutet seine Passion ein. Es sind noch wenige Tage, bis das Passahfest beginnt, bis Jesus das Abendmahl mit seinen Jüngern einsetzt, am Kreuz für unsere Schuld stirbt und das Grab leer zurücklässt. Es ist fast wie ein Countdown, der mit Palmsonntag beginnt. Und wenn wir versuchen, uns in die Geschichte Israels hineinzuversetzen, dann merken wir, wie spannungsreich dieser Tag ist. Aber auch, wie emotional aufgeladen er ist: Denn wieder hat Gott sein Versprechen gehalten. Gott ist wiedergekehrt. Auf dem Ölberg. Wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise, als die meisten damals dachten. Und doch reitet da in Jesus auf dem Esel als demütiger König der wahre Friedefürst den Ölberg herunter.
Ich möchte Dich ermutigen mit diesem Einblick in die Geschichte dieses Osterfest ganz neu, ganz persönlich, ganz nah zu erleben. Denn die Evangelien sind eine solche Einladung an uns. Und sie laden uns dazu ein mit den Jüngern und all den anderen Menschen zu rufen: Gepriesen sei der König, der im Namen des Herrn kommt! (Ps 118,26)

 

  • 1
    Laut Joh 12,1 kommen die Jünger mit Jesus sechs Tage vor dem Passahfest in Bethanien an.
  • 2
    Den Bericht über Lazarus´ Tod und die Geschehnisse darum findest Du in Joh 11, den über die Schwestern zusätzlich in Lk 10,38-42.
  • 3
    Den Bericht findest Du in 2Sam 15-19.
  • 4
    Die Berichte über Salomo findest Du in 1Kön 1-11 und 1Chr 22-2Chr 9.
  • 5
    2Kön 11,7
  • 6
    Die Vision findest Du in Hes 8-11.
  • 7
    Hes 33,21-22
  • 8
    2Kön 25,8ff.; 2Chr 36; Jer 39,1-10 u. 52
  • 9
    Die Berichte dazu findest Du in den Büchern Haggai und Sacharja, Esra und Nehemia.
  • 10
    Zum Beispiel in Sach 14,4 und Hes 43.
  • 11
    Die Berichte über diese und die kommenden Geschehnisse findest Du erstaunlich detailliert in Mt 21,1-11; Lk 19,28-44; Joh 12,12-19.
  • 12
    Jes 9,1-6
  • 13
    Sach 9,9
  • 14
    Ps 148,1
  • 15
    Psalm 118,26
  • 16
    Mk 11,10
  • 17
    Mt 21,9
  • 18
    Lk 19,39
  • 19
    Lk 19,40
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