Einfach unterwegs

Als ich heute früh ganz zerknautscht in meinem Hotelzimmer aufwachte, wusste ich, ich hab es etwas übertrieben. Nein, keine Sorge, ich meine damit keinen Alkohol oder so ;-) Stattdessen hab ich wohl einen kleinen Urlaubskater. Ich weiß nicht, ob das wirklich existiert, aber so fühlte ich mich heute früh. Als ich gestern Abend von einem wieder sehr voll gepackten Tag ins Zimmer kam, fiel ich nur aufs Bett und ward im tiefsten Land des Schlafes bis heute früh. Von all den Sachen, die ich gesehen und erlebt habe in den letzten zwei Wochen, konnte ich Dir noch gar nicht erzählen. Es wird also einige Nachträge geben, schätze ich, wenn ich wieder in Deutschland bin. Aber heute lasse ich es langsam angehen und möchte an einigen meiner Lieblingsorte einfach entspannen – und Dich mitnehmen.

Das Atrium des Hotels ist an das der Kirche angelehnt: acht Säulen, in der Mitte eine Wasserquelle, eine Glasfront mit Ausblick.

7:30 Uhr. Mein Tag beginnt natürlich an einem Ort, von dem ich Dir schon erzählt habe: Migdal. Jeden Morgen, wenn ich im wunderschönen Atrium frühstücke, das von der Morgensonne in ein einzigartiges Licht getaucht wird, und ich runter auf die Ausgrabungsstätte neben dem Hotel, den antiken Fischpool ihm Atrium und darüber hinaus bis zum Kinneret (See Genezareth) schaue, bin ich nur am Staunen und erfüllt von einer Art von Glück, das ich so gar nicht beschreiben kann. Es ist nicht das Glück, das man empfindet, wenn man sich etwas kauft (auch wenn ich zugeben muss, dass ich genau dieses Glück ab und zum in den letzten zwei Wochen empfunden habe ;-)). Es ist auch nicht das Glück, das man in einer kurzen Momentaufnahme empfindet wie etwa der bestandenen Prüfung, einer positiven Rückmeldung oder Nachricht. Es ist ein Glück, das aus tiefer Dankbarkeit kommt, dass Gott es tatsächlich möglich macht, dass ich hier sein darf – zusammen mit so vielen anderen Menschen aus der ganzen Welt. An dem Ort, wo alles passiert ist. Dass ich heute in der Synagoge stehen darf, in der Jesus stand und das Evangelium vom Königreich Gottes verkündete. Dass ich meine Füße in den See tauchen darf, auf dem Jesus gelaufen ist. Dass ich (als Christin und Deutsche) trotz der grausamen Geschichte des Exils, des kirchlichen Antijudaismus und des Holocausts mitten in dem Volk leben darf, das Gott selbst erwählt hat. Und noch so vieles mehr empfinde ich auch wieder an diesem Morgen, als ich, umgeben von Christen aus aller Welt, mein super leckeres und viel zu reichhaltiges Frühstück mümmel und in der Bibel lese. Ganz bewusst schlage ich meine zerfledderte Bibel bei Lk 5 auf – denn ich weiß schon, wo ich heute als erstes hinfahren möchte.

Als Simon Petrus begriff, was da geschehen war, fiel er vor Jesus auf die Knie und sagte: »Herr, kümmere dich nicht weiter um mich – ich bin ein zu großer Sünder, um bei dir zu sein.« Denn beim Anblick des überreichen Fangs hatte ihn Ehrfurcht erfasst, und den anderen ging es genauso. Auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, waren voller Staunen. Jesus sagte zu Simon: »Hab keine Angst! Von jetzt an wirst du Menschen fischen!« Und sobald sie am Ufer angelegt hatten, ließen sie alles zurück und folgten Jesus nach. (Lk 5,8-11)

9:30 Uhr. Nach einer kleinen Pause (ja, ich mache Pausen vom Entspannen am Morgen ;-)) am See und an der Tankstelle (der Tank meines kleinen Mietautos leert sich doch sehr schnell…) fahre ich wieder nach Kapernaum. Hier war ich schon an meinem ersten Tag am See und hab eifrig Fotos gemacht und einfach die Atmosphäre genossen. Aber heute bin ich hier zum Entspannen und auch, weil ich einige Gedanken und Infos mit Dir teilen möchte.

Dieses Mosaikschild steht gleich am Eingang und bereitet den Besucher auf die Bedeutung des Ortes vor.

Als ich durch das Tor, das die Stätte ganz richtig als „Stadt Jesu“ bezeichnet, trete, kommt mir der Gedanke: Hier hatte die „Kapernaum-Boygroup“ also ihr Zuhause. Genau, ich spreche von Simon (bald Petrus) und seinem Bruder Andreas und den Zebedäen Johannes und Jakobus. Tatsächlich kommt auch Matthäus (oder auch Levi, wie sein früherer Name war; Lk 5,27ff.), aber diese vier kannten sich schon Ewigkeiten, weil sie zusammen arbeiteten. Klar, ich war schon oft hier. Aber ich hab nie wirklich drüber nachgedacht, dass das hier für Petrus und seine Freunde das war, was meine Heimatstadt für mich ist: Hier wurde gelebt und gelitten, geliebt und verletzt, vertragen und gefeiert, hier gab es Nachbarschaft und Familie, Beruf und Konkurrenz, Enttäuschungen und wunderbare Erinnerungen. Ein richtiges Zuhause eben.

In dem großen Hof steht eine Statue, die an Petrus erinnert und den Ruf, den Jesus über seinem Leben ausgesprochen hat: Von nun an sollst du Petrus heißen. Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und alle Mächte der Hölle können ihr nichts anhaben.(Mt 16,18, NLB)

Der Zebedäe Johannes, der das Evangelium, die Briefe und die Offenbarung geschrieben hat, erzählt uns, dass die vier Männer Fischer aus Kapernaum Jesus schon eher begegnet sind, und zwar direkt nach dessen Taufe weiter südlich am Fluss Jordan, Richtung Jerusalem (Joh 1,35ff.). Nach dieser Begegnung gehen die Männer aber offensichtlich wieder zurück, um ihrem Alltag nachzugehen… und Jesus folgt ihnen (vermutlich nach seiner Versuchung in der judäischen Wüste). Im Johannesevangelium lesen wir so deutlich wie in keinem anderen, dass Jesus die Menschen kennt – mit einem Blick schaut er in ihre Herzen und weiß um das, was Gott, der Vater, in sie hineingelegt hat. Und so wandert er am See entlang nach Kapernaum, wo Petrus zusammen mit seinem Bruder und den beiden Söhnen des Zebedäus ein Fischereiunternehmen führt. In der Forschung wurde lange die Authentizität einiger Schriften des  Neuen Testaments in Frage gestellt, weil Fischer angeblich ungebildet gewesen und deswegen niemals in der Lage gewesen seien, Evangelien und Briefe zu schreiben. Mittlerweile weiß man, dass das nicht stimmt. Seit jeher wurden jüdische Kinder in Lesen und Schreiben ausgebildet, da sie die Torah verstehen und auswendig lernen mussten. Und Petrus war nicht irgendein Fischer, sondern hatte ein erfolgreiches, mittelständisches Unternehmen mit mehreren Angestellten, das in einer wichtigen Stadt an der römischen Handelspur lag, wie man durch die Archäologie mittlerweile weiß – dazu brauchte man Verstand, Bildung… und musste wegen der vielen Büroarbeit lesen und schreiben können.

Direkt am See gibt es einen wunderbar ruhigen Ort, an dem man die Atmosphäre genießen oder Gottesdienst feiern kann.

Auf der einen Seite kann man Tiberias sehen…

… auf der anderen Seite bis nach Hippos und Kursi.

Das erste, was Jesus laut Lukas tut, als er nach Kapernaum kommt, ist, in die Synagoge zu gehen und zu lehren. Wir lesen sogar, dass er eigentlich schon hier bezeugt wird als Sohn Gottes, da die Dämonen, die Menschen plagen, ihn erkennen und schreien: »Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, um uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist – der Heilige Gottes, den er gesandt hat.« (Lk 4,34). Heute wissen wir, wo diese Synagoge war. Es war Edward Robinson, dessen Name Dir vielleicht von meinem Masada-Artikel bekannt vorkommt, der 1838 das Gebiet einer der antiken Stadt fand und kurz danach als Kapernaum identifizierte. 1866 folgte ihm der Archäologe Charles Wilson, der eine topografische Zeichnung der von Robinson gefundenen Synagoge anfertigte. Ende des 19. Jhdt. kauften Franziskanermönche das Gelände und dann ging es richtig los. 1905 fanden unter Heinrich Kohl und Carl Watzinger, zwei bedeutenden Forschern der Deutschen Orient Gesellschaft, die ersten Ausgrabungen in der Synagoge statt. 1906-1915 und Anfang der ´20er folgten dann die ersten Untersuchungen des antiken Ortes und einer byzantinischen Kirche (dazu gleich mehr) unter dem Franziskanerorden. Zwischen 1968 und 1984 und schließlich zu Beginn der 2000er gab es weitere Ausgrabungen.

Hier siehst Du die weiße Synagoge, aber darunter liegen noch die Fundamente des Gebetshauses aus der Zeit Jesu. An diesem Ort hat er also gelehrt und geheilt.

Aber zurück zur Synagoge: Gefunden wurde zuerst ein jüdisches Gebetshaus aus weißem Stein, das von Forschern auf das 4. und 5. Jahrhundert datiert wird. Doch unter dem Fundament fand man die Reste einer weiteren, um einiges älteren Synagoge: Sie ist aus schwarzem Basalt gebaut, wie vieles in dieser Gegend. Ihre Entstehung wird auf einen Zeitraum um die Zeitenwende datiert und bei ihr handelt es sich vermutlich um die Synagoge, die von einem römischen Zenturio für die jüdische Gemeinde in Kapernaum gebaut wurde (Lk 7,1ff.).

Zahlreiche andere Fundamente und Mauern sind gefunden worden, hier etwa das Wohnviertel am Cardo.

Doch gibt es neben all den wunderbar erhaltenen Strukturen der antiken Stadt noch eine ganz besondere Stätte, die für Christen sie jeder wichtig war. Wie Du weißt, machte Jesus diese Stadt zu seiner neuen Heimatstadt: Hierher kam er immer wieder zurück von seinen langen Reisen. Doch übernachtete er nicht immer in einem anderen Haus, sondern bei Petrus. Tatsächlich liegt uns eine sehr weit zurückreichende Tradition vor, wo das Haus gelegen haben soll: Es handelt sich dabei um ein großes Haus, das direkt an der Handelsroute (dem Cardo Maximus, der auch durch Jerusalem verlief, wenn Du Dich erinnerst) liegt. Besondere Aufmerksamkeit unter den frühen Christen fand ein Raum des Gebäudes, der im 4. Jhdt. n.Chr. zu einer christlichen Versammlungsstätte umgebaut wurde. Dabei wurde, wie man heute nachvollziehen kann, das gesamte Haus von einer Mauer vom Rest der Stadt abgetrennt. Dies wird sogar bei der Pilgerin Eteria, einer europäischen Pilgerin, die von 381-384 nach Israel reiste, bezeugt. Im 5. Jhdt. (ebenfalls gut bezeigt) wurde dann eine byzantinische, achteckige Kirche auf dem Gelände errichtet, die als Vorbild für die heutige Kirche der Franziskaner diente.

Hier soll Petrus gelebt haben…

… und zeitweise auch Jesus selbst.

Vertrauen wir dieser alten Überlieferung unserer Glaubensgeschwister aus der frühen Kirchengeschichte, dann können wir heute, Dank der Ausgrabungen, die zwischen 1968 und 1986 stattfanden, das Haus sehen, in dem Jesus wohnte, lehrte und heilte. Dann war dies das Haus, in dem Jesus die Schwiegermutter von Petrus vom Fieber befreite, und in dem drei Freunde (meiner Meinung nach die besten Freunde, die man sich wünschen kann) das Dach von Petrus einfach mit Gewalt abdeckten, um ihren gelähmten Freund zu Jesus bringen zu können. Ein Ort des Glaubens, ein Ort der Wunder und der Nähe Gottes.

Heute steht die Kirche der Franziskaner über die Haus des Petrus.

Heute steht hier eine ebenfalls eine achteckige Kirche, die von den Franziskanern 1982 errichtet wurde. Durch einen Glasboden im Zentrum, kann man direkt auf die Überreste vom Haus von Petrus schauen.

Dann stieg Jesus ins Boot und fuhr mit seinen Jüngern über den See. (Mt 8,23)

11:15 Uhr. Meine nächste Station ist eine ganz spontane Entscheidung. Erst vor einigen Monaten sah ich eine super gute Dokumentation über christliche Stätten aus der Zeit Jesu – und ihr Bericht über diesen Fund hat mich so begeistert, dass dieser Ort definitiv auf meiner Liste stand: Nof Ginosar. Nof Ginosar ist vor allem als Kibbuz bekannt, das 1964 gegründet wurde. Doch seit einigen Jahren schon gibt es es eine besondere Attraktion in Nof Ginnosar: Ein Fischerboot aus der Zeit Jesu. Wir schreiben das Jahr 1986, als eine heftige Dürre Israel trifft und der Pegelstand des Kinneret massiv zurückgeht. Zwei Brüder aus dem Kibbuz machen dabei am Ufer einen besonderen Fund: Antike Nägel tauchen im Schlamm auf und kurz danach entdecken sie auch, wo die Nägel herkommen, denn ein antikes Boot kommt zum Vorschein. Unter der Leitung der IAA (Israel Antiquities Authority) wird das Boot aufwendig aus dem Schlamm befreit. Danach muss es allerdings rund um die Uhr bewässert werden, da das Holz des Bootes nach zwei Jahrtausenden unter Verschluss im Schlamm an der Luft zerstört würde. Nach elf Tagen wurde es endlich in das Galilee Miracle Center gebracht, wo es 11 Jahre lang behandelt wurde. Nun steht es in einem eigenen Flügel, in dem das Boot mit seiner Geschichte ausgestellt ist und die Atmosphäre so kontrolliert werden kann, dass es keinen Schaden nimmt.

Im Yigal Allon Center ist das Gallilee Miracle Center sowie ein Museum.

Das Boot misst 8,2m in der Länge, 2,3m in der Breite und in der Höhe 1,2m. Durch Quellen und eingehende Untersuchungen ist es tatsächlich gesichert, dass es sich bei dem Gefährt um ein ganz typisches Fischerboot aus der Gegend des Kinneret aus dem 1. Jhdt. v.Chr. bis ins 1. Jhdt. n.Chr. handelt. Doch sein Schicksal ist weiterhin unbekannt: Ist es zur Zeit Jesu in der Fischerei eingesetzt worden? Ist es vielleicht sogar von den Jüngern verwendet worden? Oder wurde es später sogar als Kriegsschiff eingesetzt worden, als jüdische Rebellen 67 n.Chr. in Migdal in einer Seeschlacht mit den Römern verwickelt waren?

In einem Film wird dem Besucher die Geschichte des Fundes gezeigt.

In diesem Schaum wurde das Boot eingeschlossen, um es sicher vom Ufer in das Center zu bringen.

Dies ist der Versuch eines Modells – so hat das Fischerboot zur Zeit Jesu vermutlich ausgesehen.

12:00 Uhr. Ich sitze ganz entspannt im Café im Foyer des Centers und schreibe über das antike Boot, als ich mich umdrehe und einen alten Freund entdecke. David ist amerikanischer Jude, der als Kleinkind mit seiner Familie nach Israel kam. Er hat eines der vielen Bootunternehmen, das Touristen und Einheimische über den See Genezareth schippert. Kennengelernt habe ich ihn vor 8 Jahren durch gemeinsame Freunde. Spontan nimmt er mich mit auf mehrere Bootstouren. Während wir über den an diesem Tag sehr viel befahrenen See schaukeln (heute Abend ist Schabbat und viele genießen einen freien Nachmittag), genieße ich den wunderbaren Ausblick auf die Landschaft um mich herum. Ich lasse meine Füße im grün schimmernden, warmen Wasser baumeln und versuche, mir vorzustellen, wie Jesus hier so oft mit seinen Freunden auf Booten unterwegs war, einfach nur zum Spaß oder um zu einer Stadt auf der anderen Seite zu kommen, um dort zu predigen und zu heilen. Ich versuche, mir vorzustellen, wie diese Gegend für einige der Jünger vertrautes Gelände war und diese Fortbewegungsart und die Arbeit auf dem See das Natürlichste der Welt für sie war. Und ich versuche mir die krassen Momente vorzustellen, die die bootserfahrenen Jünger mit Jesus erlebten: Als sie von einem Sturm überrascht wurden (windig ist es am See eigentlich immer, aber je nach Jahreszeit kann es extrem gefährlich werden) und Jesus sich als Herr über die Schöpfung zeigt, indem er dem Wind und den Wellen gebot und sie ruhig wurden. Oder als er die Jünger vor sich herschickte und dann auf dem See zu ihnen lief – und Petrus für einen Moment mit seinem Herrn auf dem Wasser lief.

Ob Jesus auch oft aus dieser Perspektive auf den See geschaut hat?

Der Blick geht bis an das Südende des Sees, wo der Jordan wieder abfließt.

Oder auch bis zur Küste, an der Kapernaum und Tabgha liegen.

Oder an die Ostküste des Sees.

Und so endet mein Bericht für heute (da meine Zeit mit David bis in den frühen Abend geht und ich zu nichts anderem mehr komme ;-)) – so wie er begonnen hat: Mit einem Blick auf dem See, den Jesus selbst so sehr liebt, dass er seine meiste Zeit in dieser Gegend verbrachte.

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