Über den Wolken

Draußen war es noch finster, als ich in den frühen Morgenstunden in den Sitz gedrückt wurde. Doch mit entspanntem Zurücklehnen war nicht viel los, denn das Flugzeug wurde von Schlechtwetterturbulenzen durchgeschüttelt. In diesem Moment ging mir mehrmals der Gedanke durch den Kopf: Was mache ich hier eigentlich? Mein Vater und ich saßen gerade in unserem ersten Flugzeug des Tages. Es war der 22. Oktober und ja, es war erst das erste Flugzeug: Denn wir hatten uns auf den Weg gemacht, unsere Verwandten in den USA zu besuchen, die wir seit 30 Jahren nicht mehr gesehen hatten (da ich damals ein Baby war, ist meine Erinnerung an dieses Ereignis von allen aus der Familie durchaus am schlechtesten). Und weißt Du was? Ich hatte mich richtig drauf gefreut, als wir die Reise dingfest gemacht und gebucht hatten. Und nachdem die letzten zwei Wochen, seit ich aus Israel wieder in Deutschland war, ziemlich stressig waren, kam beim Packen endlich Vorfreude auf. Was konnte es auch Schöneres geben, als eine längst überfällige Vater-Tochter-Tour zu Verwandten anzutreten, etwas Neues zu erleben, Kultur und Sehenswürdigkeiten zu entdecken, die besten Kuchen- und Eisläden ausfindig zu machen und so vieles mehr?

Doch die Vorstellung, die Vision, ja sogar die Freude wichen Zweifeln, als das kleine Flugzeug, das uns von Hannover nach Frankfurt brachte, immer wieder ruckelte und schaukelte. Die Finsternis vor unseren Fenstern wurde nur unterbrochen, wenn die Signalleuchten der kleinen Maschine aufblitzen und die grau-schwarze Wolkenwand um unser Flugzeug herum erleuchteten. Weit konnte man nicht sehen, nur bis vors Fenster. Die Masse sah richtig gespenstisch aus und obwohl die Stewardess Schokolade verteilte, bekam ich es tatsächlich mit der Angst zu tun. Nichts war an diesem Flug so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Kennst Du das Gefühl auch? Die Enttäuschung, wie sich der Weg entwickelt, den Du gerade angetreten hast – im sicheren Glauben, dass es einfach nur toll wird, voll von Elan und Motivation… Und dann wird es holprig. Wolken umgeben Dich und Du kannst nicht mal den nächsten Meter sehen, weil der Sturm, in den Du hineingeraten bist, so finster ist. Ich habe gerade erst vor kurzem über Stürme des Lebens gepredigt. Aber an jenem Oktobertag im Flugzeug habe ich etwas gelernt, was ich am Sonntag davor noch nicht wusste: Manchmal müssen wir die Perspektive wechseln. Oder eher: Uns von Gott in eine andere Perspektive ziehen lassen.

Denn einige Stunden später bestiegen mein Vater und ich die zweite Maschine des Tages. Dieses Mal eine B747, ein echtes Riesenschiff! Zuerst beruhigte mich der Gedanke sehr – sie wirkte stabiler, mehr Menschen trauten sich an Bord und es war natürlich mittlerweile früher Mittag und der Sturm hatte sich verzogen. Doch bald wollte mich die Furcht vom Morgen wieder übermannen. Anscheinend war es über Deutschland heute sehr windig, sogar für dicke Flugzeuge, denn beim Starten kam auch unsere Boing ziemlich ins Schaukeln. Aber Stück für Stück arbeitete sie sich vor durch die Luft- und Wolkenschichten hindurch. Und dann sah ich es: Wie sich Dinge verändern, wenn wir eine andere Perspektive einnehmen.

Nachdem wir die Wolkendecke, die von unten aus meiner menschlichen, allzu begrenzten Perspektive grau und finster aussah, mich beengte und mir zusetzte, hier uns gelassen hatten, da sah ich sie von oben. Und das Schwarz und Grau wich einem gleißend hellen Weiß. Ich war vorher schon öfter nach Israel geflogen, aber heute erreichten wir eine Reisehöhe, die ich so noch nicht konnte. Hoch oben über der weißen Decke flogen wir, die Sonne neben uns und die Farben waren einfach nur fantastisch. Das kräftige Blau kann man kaum beschreiben, das gleißende Weiß, aber auch die Pastellfarben, die sich immer wieder auf die himmlische Leinwand stahlen.

Ja, manchmal müssen auch wir uns nur einfach weiter vorarbeiten. Es kann passieren, dass Gott uns einen Einblick in Seine Gedanken für uns gibt, dass Er uns ein Ziel zeigt, eine neue Vision in unser Herz legt, die uns zum Brennen bringt und uns mit Freude und Kraft erfüllt. Und diese Momente, auch wenn sie manchmal zeitlich begrenzt zu sein scheinen, sollten wir nicht unterschätzen: Denn sie zeigen uns, dass der allmächtige Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Retter und Richter dieser Welt uns mit einbezieht. Jawohl, er lässt uns Anteil haben an dem, was Er tun möchte in dieser Welt. Dafür hat Er Dich gemacht, genau dafür hat Er Dich begabt und befähigt. Und deshalb darfst Du diese Moment, in denen der Heilige Geist durchbricht, nicht kleinreden, sondern darfst und musst Dich sogar daran festhalten und immer wieder daran erinnern. Denn es kann passieren, dass wir, nachdem wir losgezogen sind, in einen Sturm kommen, der uns die Sicht nimmt und uns, die wir uns vorher so sicher und gut ausgerüstet gefühlt haben, ins Wanken bringt. Aber manchmal heißt es: Menschliche Augen zu, seelische Augen auf und auf Gott und das Ziel gerichtet – und einfach weiter. Immer weiter durch die Wolkenschichten, weiter durch die Luftlöcher, immer weiter mit den Geschwistern, die Gott uns an die Seite gestellt, und den anderen Menschen, die Gott uns anvertraut hat.

Und dann kommen wir oben an und dürfen die Dinge aus Gottes Perspektive sehen. Hätte ich die Wolkendecke nicht vorher von unten gesehen, hätten wir uns nicht durchgekämpft, obwohl es gefährlich aussah, hätten wir sie nie von oben gesehen. Wäre uns diese besondere Erfahrung mit all ihrer Schönheit entgangen. Und ich hätte nicht gehört, wie Gott durch diese Erfahrung zu mir sprechen wollte, um mir etwas für meine aktuelle Situation zu zeigen.

Wo auf Deinem Weg hat Gott Dich mal in einen Sturm geführt, in dem Du ordentlich durchgerüttelt wurdest und nicht mal mehr den nächsten Schritt sehen konntest – nur um Dich dadurch herauszufordern, Deine begrenzte Perspektive zu verlassen und Seine einzunehmen? Ich sage nicht, dass es einfach ist. Denn ich bin und bleibe Mensch. Aber es ist doch ein Gedanke mit einer gewissen Sprengkraft, dass Gott mich an Seiner Sicht teilhaben lassen will. Dass Er weiß, wo Er mich hinbringen und wie Er mich formen, was Er aus mir herausholen möchte – und was es dafür braucht.

Vertrauen ist mir nie leicht gefallen, sowohl bei Menschen als auch bei Gott. Und selbst nach zehn ziemlich aufregenden Jahren mit Gott, brauche ich immer wieder diese Momente, in denen Er mich an meine Grenzen bringt und mich herausfordert. Und dennoch hört Er nicht auf, denn Er sieht mich – wie ich bin und wie ich sein werde, wenn Er mit mir fertig ist. Und dafür bin ich unfassbar dankbar!

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