Von dem Gott, der Vertrauen möchte – wie Jesus Thomas begegnet

Ostern – und weiter? Ich glaube, manche denken, dass mit den großen Ereignissen von Ostern das wichtigste Kapitel in den Evangelien vorbei ist. Dabei gibt es tatsächlich noch einiges zu entdecken und zu erkunden von dem, was die Jünger mit Jesus erlebt haben, bevor er zum Vater gegangen ist. Lukas berichtet zu Beginn der Apostelgeschichte, dass sich Jesus als Auferstandener 40 Tage lang seinen Jüngern zeigte (Apg 1,1-3). Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir diese Zeitspanne im Laufe der Kirchengeschichte vergeistlicht haben, ganz nach dem Motto: Als unantastbarer Herr ist Jesus seinen Jüngern erschienen, als heiliges, unnahbares Wesen – und dabei vergessen wir, dass sich diese Vorstellung so sehr von dem Jesus unterscheidet, der mit seinen Freunden über staubige Straßen stapfte, essen und schlafen musste, betete und Gottes Nähe suchte und den Menschen so nahbar, so greifbar, nur einen ausgestreckten Arm entfernt war! Aber: Wenn wir in den letzten Kapiteln der Evangelien stöbern, dann muss uns schnell klar werden, dass uns hier ganz konkrete Begegnungen der Jünger mit dem auferstandenen Jesus geschildert werden: Jesus ist körperlich anwesend, sie dürfen ihn anfassen, er isst mit ihnen, er redet mit ihnen und erinnert sich mit ihnen. Das sind Treffen unter Vertrauten, unter engen Freunden! Eine davon findet sich gleich beim ersten Treffen nach Ostersonntag: die Begegnung zwischen Jesus und Thomas.

Rückblick. Lass uns kurz wieder in die Situation einsteigen, in der wir die Jünger am Ostersonntag zurückgelassen haben: Wir lesen in drei Evangelien (Mk 16,14, Lk 24,33-49, Joh 20,19-23) davon, dass die Jünger am ersten Tag der Woche (das ist der Auferstehungstag) abends zusammenkommen und Jesus plötzlich bei ihnen steht – sie dürfen ihn anfassen, seine Wunden betasten, um sich so zu überzeugen, dass er es wirklich ist… und dass er wirklich tot war! Das ist kein Trick und auch kein grausames Missverständnis, solche Wunden kann kein Mensch überleben: Jesus war wirklich gestorben und nun lebt er. Er isst mit ihnen (wie früher) und legt ihnen die ganze Schrift aus, damit sie endlich zu verstehen beginnen, warum er als lang ersehnter Messias, als Christus sterben musste, und was es bedeutet, dass er auferstanden ist.

Aber dieses Erlebnis ist nicht ganz ungetrübt – denn der Evangelist Johannes erzählt uns, dass ein Jünger fehlt: Thomas (Joh 20,24). Thomas ist nicht dabei, als die anderen Jesus sehen und berühren und mit ihm reden. Warum nicht? Ist er enttäuscht und hat sich von der Gruppe getrennt? Hat er Angst und sich deshalb versteckt? Will er die Stadt verlassen? Niemand berichtet uns das Geschehen aus der Sicht von Thomas. Stattdessen ist Thomas im Laufe der Geschichte der Christenheit zu einer Art Buhmann geworden: Er ist der Zweifler, er ist der, der einen Beweis braucht, um zu glauben, und wurde so zu einem Negativbeispiel, weil er scheinbar von Jesus bloßgestellt und getadelt wird. Für uns ist es so leicht, sich auf einen Richterstuhl zu schwingen und das Tun anderer Menschen zu beurteilen, nicht wahr? Aber wenn wir wirklich in die Berichte einsteigen, dann kommen wir nicht umhin zu bemerken, dass Jesus und Thomas sehr viel enger miteinander sind, als wir denken. Tadelt Jesus Thomas wirklich? Oder ist Thomas nicht eher ein Beispiel für einen treuen Freund, wie ihn sich jeder nur wünschen kann? Wie hast du Thomas bisher in der Bibel oder auch kirchlicher Lehre kennengelernt?

Der Anfang. Um die Beziehung zwischen Jesus und Thomas besser verstehen zu können (und damit wahrscheinlich auch Jesus und Thomas selbst), müssen wir zurückgehen. Denn Thomas ist nicht irgendjemand, nicht einer von den 70 Jüngern, die Jesus einmal ausgesandt hat (Lk 10,1-24), oder jemand, der ihm ab und zu mal lauschen wollte. Oh nein, Thomas ist einer der Zwölf! Im Matthäusevangelium lesen wir davon, wie Jesus mit seinen Freunden im Land umherzieht und fast ohne Unterlass Menschen begegnet und ihnen das Evangelium verkündigt, dass er lehrt und korrigiert, dass er berührt und heilt, dass er Dämonen austreibt und Leben wiederherstellt. An einem Punkt sieht er die Massen von Menschen, die ihm hinterherziehen, um nur ein klein bisschen von ihm abzubekommen, und Jesus merkt, wie groß die Aufgabe ist, das Reich Gottes in dieser kaputten Welt aufzubauen: „Als er die vielen Menschen sah, hatte er tiefes Mitleid mit ihnen, denn sie hatten große Sorgen und wussten nicht, wen sie um Hilfe bitten konnten. Sie waren wie Schafe ohne Hirten. Deshalb sagte er zu seinen Jüngern: »Die Ernte ist groß, aber es sind nicht genügend Arbeiter da. Betet zum Herrn und bittet ihn, mehr Arbeiter zu schicken, um die Ernte einzubringen.«“ (Mt 9,36-38) Wir sehen hier einen Mensch gewordenen Gott, der Mitleid hat – das griechische Wort, dass Jesu Mitleid beschreibt, meint nicht bloß, dass er etwas bewegendes sieht und es ihm für die Menschen einfach leidtut. Nein, dieses Wort beschreibt die Art von Mitleid, dass einem selbst das Herz zerreißt, das so tief geht, dass man es körperlich fühlen kann! Jesus leidet mit den Menschen mit. Aus diesem tiefen, schmerzenden Mitleiden heraus erwählt Jesus die Zwölf. An diesem Punkt nimmt er also Menschen mit hinein in seine Arbeit, gibt ihnen seine Vollmacht und schickt sie los, um seine Botschaft zu verkünden (Mt 10,1.5-42). In den folgenden Versen wird berichtet, wie er sie sogleich aussendet – aber nicht, bevor sie nicht alle namentlich aufgelistet werden (Mt 10,2-4, Mk 3,13-16, Lk 6,12-16, Apg 1,13). Einer von ihnen ist Thomas. Thomas ist also von Anfang an dabei gewesen (wir wissen aus Apg 1,21-22, dass das eine Voraussetzung für das Apostelamt war) und hat die größten Dinge mit Jesus erlebt. Wie passt das mit dem Bild zusammen, das die meisten von uns von Thomas haben?

Eines sollten wir Jesus zugestehen: Er tut nichts umsonst und nichts aus Versehen. Wir lesen immer wieder, wie Jesus die Herzen der Menschen sieht und ihre Gedanken kennt. Er wusste also vorher, dass Thomas genauso wie alle anderen im Garten Gethsemani weglaufen und dann am Auferstehungstag als einziger nicht da sein würde. Warum hat er ihn ausgewählt? Was kommen Dir für Gedanken zu der Frage, was Jesus angetrieben hat, einen Menschen als Apostel und dann konkret diesen Mann auszuwählen?

Genau hinschauen. Ich glaube, wir finden die Antwort auf diese Frage in einem späteren Bericht, in dem Thomas eine große Rolle spielt, auch wenn sie den meisten von uns unbekannt ist. Lass uns also etwas vorspulen und zu dem Ereignis springen, das alle kennen: die Auferweckung von Lazarus. Dieses bahnbrechende Ereignis beginnt nämlich nicht erst, als Jesus mit seinen Jüngern nach Bethanien kommt, Es beginnt einige Tage früher.

Ein Mann namens Lazarus war krank. Er wohnte mit seinen Schwestern Maria und Marta in Bethanien. Es handelt sich um dieselbe Maria, die dem Herrn das kostbare Duftöl über die Füße goss und sie mit ihrem Haar trocknete. Weil ihr Bruder Lazarus krank geworden war, schickten die beiden Schwestern Jesus eine Nachricht und ließen ihm ausrichten: »Herr, der, den du lieb hast, ist sehr krank.« Als Jesus jedoch davon hörte, sagte er: »Lazarus‘ Krankheit wird nicht zum Tode führen; sie dient vielmehr der Verherrlichung Gottes. Der Sohn Gottes wird durch sie verherrlicht werden.« Jesus hatte Marta, Maria und Lazarus lieb. Als er von seiner Krankheit erfahren hatte, blieb er noch zwei Tage, wo er war. Erst dann sagte er zu seinen Jüngern: »Lasst uns wieder nach Judäa gehen.« Doch seine Jünger wandten ein: »Meister, erst vor wenigen Tagen haben die Juden dort versucht, dich zu steinigen. Und nun willst du dorthin zurückkehren?« Jesus erwiderte: »Es ist doch zwölf Stunden jeden Tag hell. Solange es hell ist, können die Menschen sicher einen Fuß vor den anderen setzen. Sie können sehen, weil sie das Licht dieser Welt haben. Nur in der Nacht laufen sie Gefahr zu stolpern, weil das Licht nicht bei ihnen ist.« Und er fuhr fort: »Unser Freund Lazarus ist eingeschlafen, doch nun gehe ich hin und wecke ihn auf.« Die Jünger meinten: »Herr, wenn er schläft, wird er bald wieder gesund!« Sie dachten, Jesus rede von einem heilsamen Schlaf; Jesus sprach aber davon, dass Lazarus gestorben war. Da sagte er ihnen offen: »Lazarus ist tot. Euretwegen bin ich froh, dass ich nicht dort war, weil ihr so einen weiteren Grund haben werdet, an mich zu glauben. Kommt, wir wollen zu ihm gehen.« Thomas, auch »Zwilling« genannt, sagte zu den anderen Jüngern: »Wir wollen mitgehen – und mit ihm sterben.« (Joh 11,1-16, NLB)

Wahrscheinlich haben die Jünger in dieser Situation alle Fragezeichen im Gesicht: Ihre einzige Sorge ist, Jesus von den Leuten fernzuhalten, die ihn umbringen wollen – und er antwortet mit diesem merkwürdigen Bild von Tag und Nacht und Licht und Finsternis und scheint ihre Sorge nicht richtig ernst zu nehmen (vermutlich ist diese eine der Situationen, die die Jünger erst im Nachhinein verstehen, als sie mit dem Auferstandenen zusammensitzen und erkennen, dass Jesus wirklich und leibhaftig das Licht der Welt ist und warum alles geschehen musste). Als Jesus ihnen eröffnet, dass Lazarus gestorben ist und nicht einfach nur krank, sind sie sprachlos vor Angst und Sorge, aber wohl auch wegen der Trauer um ihren Freund. Was für eine verzwickte Situation: Zwei Mal (!) wird in diesem kurzen Abschnitt gesagt, wie sehr Jesus Lazarus und seine Schwestern liebt. Sie müssen enge Freunde der ganzen Gruppe sein – und nun ist Lazarus tot. Keiner der Jünger kann Jesus nun davon abhalten, nach Bethanien zu gehen, denn auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht verstehen, was genau er vorhat, gehört es sich, einem so engen Freund die letzte Ehre zu erweisen und mit der Familie um ihn zu trauern. Doch warten in Bethanien führende Juden aus Jerusalem, denen Jesus ein gewaltiger Dorn im Auge ist. Vermutlich sind alle Jünger zwiegespalten zwischen Trauer und Angst.

Der treue Thomas. Dieses Mal ist es nicht Petrus, der das Wort ergreift – sondern Thomas. Und er sagt: Wenn Jesus geht, gehe ich mit – und wenn er stirbt, sterbe ich mit ihm. Man könnte Thomas für impulsiv halten, vielleicht auch für etwas melodramatisch. Aber seine Befürchtungen sind mehr als berechtigt – wir wissen, dass einige Männer zu diesem Zeitpunkt Jesus umbringen wollen und das auf sehr brutale Weise. In einer solchen Zeit mit solchen Feinden zu sagen, dass man seinem Rabbi folgt, selbst in den Rachen des Löwen hinein, das braucht Mut. Das braucht Loyalität. Das braucht Treue. Das braucht Liebe. Eine solche bedingungslose Liebe, wie wir sie heute kaum noch finden. Ich glaube, an dieser Stelle sehen wir Thomas´ Stärken und den Grund, warum Jesus gerade ihn ausgesucht hat als einen der Zwölf – wegen seiner Charakterstärke und der tiefen Freundschaft, die sie entwickeln würden. Ich glaube, Jesus hat Thomas von Anfang an sehr lieb gehabt, weil er sein Herz sehen konnte, das so mutig und treu ist. Und wieder einmal sehen wir, dass Jesus genau das anschaut: Er schaut nicht auf eine imponierende Erscheinung, nicht auf eine herausragende Bildung oder eine beeindruckende Frömmigkeit. Denn dieser Moment, an dem Thomas sich so hervortut, wird kaum bemerkt und ist ganz privat! Niemand schaut zu, vielleicht haben sich die anderen Jünger später nicht mal mehr daran erinnert, nur Johannes hat diesen Moment festgehalten! Thomas l(i)ebt und handelt aus seinem Herzen heraus und genau das ist bedeutsam.

Innehalten. Einer meiner Dozenten hat uns einmal die Frage gestellt: Wie lebst Du Deinen Glauben, wenn niemand es sieht? Das ist nichts anderes als die Frage, wie tief unser Glaube geht. Wie sehr er unser Leben und unser Herz durchringt. Wie sehr wir Jesus als einen persönlichen und intimen Retter kennen – und wie sehr wir diesen Jesus lieben. Ich finde, Thomas ist ein großes Vorbild, was diese tiefgehende Frage betrifft. Wie gehst Du mit dieser Frage um: Wie lebst Du Deinen Glauben, wenn niemand es sieht?

Stärke und Zerbruch. Aber ist es nicht so, dass Stärken auch Raum für Schwächen eröffnen? Die Dinge, in denen wir uns hervortun, können uns auch zu Hindernissen werden. Oder anders gesagt: Wer intensiv liebt, kann auch intensiv enttäuscht werden, dessen Welt kann intensiver zerbrechen als für jemanden, der emotional nicht involviert ist. Ich weiß nicht, wie es Dir damit geht, aber ich kann verstehen, dass Thomas nicht da war an jenem dritten Tag nach dem Tod Jesu. Er war bereit, sein Leben für Jesus hinzugeben in einem Moment, als die anderen sich lieber vor den Gegnern versteckt hätten. Als Thomas Jesus kennengelernt hat, hat er alles hinter sich gelassen und wäre mit Jesus in den Tod gegangen – aber was ist, wenn man alles verliert und zurückbleiben muss? Wir müssen uns klar machen, dass die Jünger zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstehen, wer genau Jesus ist und warum was geschehen musste, noch haben sie nicht den Heiligen Geist und damit die ständige Gegenwart Gottes in ihren Herzen. Versuchen wir also, uns in Thomas hineinzuversetzen und seine Enttäuschung, seinen Zerbruch nachzuvollziehen: Was ist, wenn Du Dein ganzes Leben für die Sache dieses Mannes einsetzt, wenn Du ihm Dein ganzes Sein anvertraust, weil er Dich berührt, wie es sonst niemand kann, weil er Dich heilt, wie Du es nie für möglich gehalten hättest (und ich meine nicht bloß körperlich – manchmal ist die Heilung unseres Herzens im Leid viel notwendiger und wertvoller!), weil er Dich von Grund auf verändert, einfach weil er so ist wie er ist? Was ist, wenn dieser Mann, der nicht nur dein bester Freund, sondern auch dein Rabbi und deine Verbindung zu Gott ist – was ist, wenn dieser Mann stirbt… und Du musst ohne ihn weiterleben? Was dann?

Ich verstehe Thomas. Und Du vielleicht auch. Denn vielleicht kennst Du auch solche Momente, in denen du so verletzt, so enttäuscht, so am Boden zerstört warst, dass Du einfach nur allein sein wolltest; in denen Du Dich zurückgezogen hast von den Menschen, die sonst immer um Dich herum waren, einfach, weil du nachdenken, den Schmerz irgendwie in den Griff kriegen und klarkommen musstest. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es Thomas an jenem Abend und vielleicht auch in den Tagen danach so ging. Und damit kommen wir zu der Stelle, um die es eigentlich geht: Thomas ist nicht dabei, als der Auferstandene sich seinen Freunden zeigt. Wie muss es für ihn sein, als ihm am nächsten Tag die anderen erzählen, dass sie Jesus gesehen haben! Und er war als einziger nicht dabei…

Aber weißt Du, was mich Thomas besonders lieben lässt? Genau die Aussage, wegen der ihn die meisten verurteilen:

Einer der Jünger, Thomas, der auch »Zwilling« genannt wurde, war nicht dabei gewesen, als Jesus kam. Sie erzählten ihm: »Wir haben den Herrn gesehen!« Doch er erwiderte: »Das glaube ich nicht, es sei denn, ich sehe die Wunden von den Nägeln in seinen Händen, berühre sie mit meinen Fingern und lege meine Hand in die Wunde an seiner Seite.« (Joh 20,24-25)

Wieder einmal beweist Thomas Mut und Stärke – denn er lässt nicht los. Er hätte sich ausgeschlossen und verraten fühlen oder auch einfach am Verstand der anderen zweifeln können, er hätte der Gruppe der Jünger den Rücken zukehren und gehen können. Aber er tut nichts dergleichen. Stattdessen sagt er: Wenn Jesus wirklich auferstanden ist, dann kann er sich auch mir zeigen! Wenn Jesus wirklich lebt, dann will ich ihn sehen! Im Grunde fordert Thomas hier nichts anderes ein als das, was den anderen Jüngern am Auferstehungstag geschenkt wurde. Wir lesen in den Versen davor, dass die anderen nämlich genau diese Dinge tun durften: Jesus sehen und seine Wunden berühren. Thomas weigert sich, ausgeschlossen zu werden. Und so kommt er jeden Tag wieder, Tag für Tag sitzt er mit den anderen Jüngern zusammen und wartet, dass der Mann, für den er alles hinter sich gelassen hat, sich ihm zeigt, angetrieben von der Hoffnung, dass doch nicht alles umsonst war, dass doch nicht alles verloren ist. Es dauert acht Tage. Über eine Woche, als wollte Jesus Thomas so durch seine Ausdauer und Treue und innere Stärke hervorheben und ihm einen besonderen Platz einräumen. Am achten Tag nach der Auferstehung sitzt Thomas wieder mit den anderen zusammen. Und endlich kommt der Mann, für den er gestorben wäre – um ihm zu zeigen, dass er für ihn gestorben ist.

Acht Tage später waren die Jünger wieder beisammen, und diesmal war auch Thomas bei ihnen. Die Türen waren verschlossen; doch plötzlich stand Jesus, genau wie zuvor, in ihrer Mitte. Er sprach: »Friede sei mit euch!« Dann sagte er zu Thomas: »Lege deine Finger auf diese Stelle hier und sieh dir meine Hände an. Lege deine Hand in die Wunde an meiner Seite. Sei nicht mehr ungläubig, sondern glaube!«  (Joh 20,26-27)

Jesus kommt wegen Thomas. Jesus hat kaum Augen für die anderen. Er kommt wegen Thomas. Er kommt, um ihm genau die Situation zu schenken, die die anderen schon vor acht Tagen erleben durften. Es ist, als ob Jesus Thomas für sein Ausharren belohnen wollte. Kein anderer Jünger erlebt einen solchen Moment mit Jesus, so exklusiv. In dieser Situation geht es um Thomas´ Vertrauen, dass der Jesus, den er kennt, sich ihm zeigen kann und wird.

Und damit kommen wir zu der Aussage, die meist negativ verstanden wird. Jesus sagt zu Thomas: „Sei nicht mehr ungläubig, sondern glaube!“ Wir verstehen das meistens so, als würde Jesus Thomas an dieser Stelle dafür tadeln, dass er einen Beweis brauchte (aber: ging es wirklich um einen Beweis?). Doch begehen wir einen Fehler und tun Jesus und Thomas Unrecht, wenn wir an diese Aussage mit unserem heutigen, philosophischen und postmodernen Glaubensbegriff herangehen. Wenn Jesus von Glauben spricht, dann meint er keinen Glauben an etwas, was man gerne hätte oder fühlt, was man aber nicht beweisen kann. Zu diesem Zeitpunkt im jüdischen Kontext gibt es die Frage nicht, ob es Gott überhaupt gibt – das ist ein Fakt und keine zu erweisende Tatsache (dazu müssen wir nur beispielsweise Paulus´ Argumentation in Röm 1,18ff. anschauen). Deshalb gibt es weder im Alten noch im Neuen Testament ein Wort, das wir mit unserem heutigen Glaubensbegriff gleichsetzen können. Die hebräischen und griechischen Worte, die wir mit glauben übersetzen, meinen eigentlich ein vertrauen. Das jüdische Glaubensverständnis des Alten Testaments geht davon aus, dass Gott treu, zuverlässig, liebevoll ist – weshalb wir Menschen mit Vertrauen reagieren können! Der Glaube an Gott ist eine Vertrauensbeziehung zu unserem Schöpfer. Die Evangelisten und Apostel haben ein griechisches Wort gewählt und Jesus hier in den Mund gelegt, das genau dieses hebräische Verständnis aufgreift. Jesus sagt hier also eigentlich: Sei nicht ohne Vertrauen, sondern vertraue mir – vertraue auf das, was Du gesehen und mit mir erlebt und erkannt hast!

Thomas und wir. Schließlich folgt noch der zweite Satz von Jesus: „Du vertraust, weil Du mich gesehen hast.“ (Joh 20,29) Das ist kein Tadel – warum sollte Jesus Thomas an dieser Stelle tadeln, wenn er auf etwas wartet, was die anderen Jünger erleben durften? Jesus schafft hier vielmehr eine Überleitung mit Blick auf uns – denn er weiß, dass es lange dauern wird, bis er als König wiederkommt. Viele Gläubige müssen also diesen Vertrauensglauben aufbringen, ohne Jesus so leibhaftig erlebt zu haben, wie die Jünger es durften. Und so wendet Jesus, nachdem er uns an der Begegnung mit Thomas hat teilhaben lassen, nun uns den Blick zu und sagt: „Glücklich sind die, die mich nicht sehen und dennoch glauben.“ (Joh 20,29) Das bedeutet, selbst wenn wir Jesus nicht so sehen und erleben können, wie die Jünger es konnten, ist dennoch eine Begegnung mit diesem Gott möglich, sodass wir vertrauen, vertrauensvoll glauben können. Diese Menschen bezeichnet Jesus als „glücklich“ – aber mit diesem Wort meint er keinen oberflächlichen Enthusiasmus und auch keine aufgedrehte Freude, die wir heute meist unter Glücksgefühlen verstehen, oder etwa auch ein Seligsein im Sinne von Errettetsein. Dieses griechische Wort hat seinen Ursprung wieder in einem hebräischen, das im Alten Testament eine Art von Glücklichsein beschreibt, das nur Gott allein geben kann: Inmitten des ganzen weltlichen Chaos, inmitten jeder Ungerechtigkeit, inmitten vom Vergehen dieser Welt kann ich dennoch dieses besondere, friedvolle Glück empfinden, wenn ich Gott kenne und zu ihm gehören darf, der mich geschaffen hat – der mich liebt mehr als sein eigenes Leben – und der wiederkommt, um diese Welt wiederherzustellen, sodass ich ewig mit ihm leben darf. Das ist ein Glück, das mit keinem Reichtum dieser Welt aufzuwerten ist.

Das Bekenntnis. Thomas reagiert mit diesem Glück, als er Jesu Wundmale sehen und seinen Freund und Rabbi berühren darf: »Mein Herr und mein Gott!«, rief Thomas aus. (Joh 20,28) Mit diesem Satz kommen wir zum Höhepunkt des ganzen Berichts und sogar des ganzen Evangeliums von Johannes, wie ich meine. Thomas bezieht sich mit diesem Ausruf nämlich auf den Beginn seiner Geschichte mit Jesus. Denn als die beiden sich kennenlernten (und Jesus ihn zum Apostel berief), begann Jesus seinen Auftrag, indem er ankündigte, dass das Königreich Gottes nahe ist (Mk 1,14-15; Mt 9,35). Das Evangelium Jesu in jeder Form, ob Predigt, Heilung oder Befreiung, hat also stets die tiefere Botschaft, dass Gott als König kommt: Der Gott Israels, der Schöpfer von Himmel und Erde, kommt in die zerrissene Welt hinein, um in all der Finsternis sein Königreich aufzurichten – und so die Wiederherstellung der Schöpfung zu beginnen. Als Thomas Jesus als Herrn anspricht, benutzt er das griechische Wort, das für den hebräischen Namen Gottes steht – Kyrios! Er erkennt in diesem Moment und verkündet laut, dass Jesus Gott ist. Mein Gott, ruft er dann noch, und bestätigt damit das Evangelium Jesu: „Das Königreich Gottes ist nahe!“ Aber Thomas geht mit seinem Bekenntnis weiter. Mit seinem Ausruf verkündet Thomas: Jesus Christus ist Gott und König. Er lebt! Er ist hier! Sein Königreich ist angebrochen – mitten in der Finsternis, mitten in Hass und Leid dieser Welt, mitten in Krankheit, Tod und Sünde sprosst das lang ersehnte Königreich Gottes auf. Und nichts und niemand kann es aufhalten.

Was zeigt Gott uns? Die Berichte über die Beziehung zwischen Jesus und Thomas eröffnen uns eine ungemein nahbare Seite an unserem Gott: Er sieht jeden einzelnen von uns, er schaut in unser Herz und kennt uns mit unseren Stärken und Schwächen. Und genauso liebt er uns. Er weiß, welche Ermahnung oder auch Bestärkung wir brauchen, er weiß, wie er unser Vertrauen in ihn in selbst den schwierigsten Situationen nur noch verstärken kann.

Und Thomas? Thomas lehrt uns festzuhalten. Trotz jeder Ungewissheit, jeder Enttäuschung und Angst fast schon trotzig an dem Mann festzuhalten, der uns mehr gegeben hat, als es sonst jemand könnte: unser Leben und unsere Freude, die Schöpfung und andere Menschen, ein neues Leben und die Befreiung von Sünde und Tod, die Ewigkeit mit ihm.

Direkt im Anschluss an diese Erzählung wird von einer weiteren Begegnung zwischen Jesus und seinen Jüngern berichtet. Thomas wird als einer der wenigen namentlich erwähnt (Joh 21,1-2) – neben zwei weiteren, die ebenfalls eine besondere Geschichte mit Jesus haben, geprägt von menschlichem Scheitern und der alles triumphierenden Liebe Gottes. Ein letztes Mal lesen wir im Neuen Testament von Thomas in der Apostelgeschichte: Er ist mitten drin in der Gemeinschaft der neuen Zwölf, die in Jerusalem auf den Heiligen Geist warten – und dann mit Gott die Welt verändern (Apg 1,13).

Thomas und Jesus teilen eine ganz besondere Geschichte trotz der Brüche und Risse darin. Diese Verbindung geht so tief, dass Thomas weit reist, um die frohe und befreiende Botschaft Jesu zu verkünden. Viele Menschen finden durch ihn zu Jesus – und er lässt schließlich um 70 n.Chr. sein Leben für Jesus. Doch ist dies nicht das Ende einer bewegenden Geschichte – sondern erst ihr Anfang!

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