Die Frage von Karfreitag – Wer ist dieser Mann?

Was verbindest Du mit Karfreitag? Wenn man sich in seinem Bekanntenkreis oder auf der Straße so umhört und fragt, was die Menschen mit Karfreitag verbinden, bekommt man ganz verschiedene Antworten: Karfreitag ist ein gesetzlicher Feiertag. Die Geschäfte haben geschlossen. Junge Menschen beschweren sich vielleicht, dass sie nicht in die Disko gehen dürfen. Man isst traditionell kein Fleisch. Und wieder andere verbinden mit diesem Tag vielleicht gar nichts und er hat keinerlei Bedeutung für sie.
Aber was verbindest Du mit Karfreitag? Ist es für Dich ein gemütlicher Familientag oder einfach ein ersehnter freier Tag, an dem Du den Alltag zumindest kurzzeitig hinter Dir lassen kannst? Denkst Du an schöne Erinnerungen von früheren Karfreitagen? Oder hast Du gerade eigentlich für all das gar keinen Kopf, trägst Sorgen mit Dir herum und bist in Gedanken ganz woanders?

Wie auch immer es Dir gerade geht, wo Du diese Zeilen liest – ich möchte Dich einladen, all das, was Deine Gedanken einnimmt, für einen Moment hinter Dir zu lassen und Dich mit mir auf eine Zeitreise zu begeben. Wir befinden uns im warmen und trockenen Israel vor 2000 Jahren, genau genommen im politischen und religiösen Zentrum Jerusalem. Es ist gerade der Rüsttag für den Schabbat. Das heißt, wenn in einigen Stunden die Sonne untergeht, beginnt der große Ruhetag und für 24 Stunden wird das ganze Land still daliegen.
Aber nicht nur das: Am Vorabend hat auch noch das Passah-Fest begonnen. Über eine Woche lang wird nun ganz Israel der großen Taten Gottes gedenken, die Er vollbrachte, als Er sein Volk aus Ägypten aus der Sklaverei führte. Jerusalem als Stadt des Tempels ist brechend voll, denn unzählige Israeliten begehen anlässlich dieses Festes eine Pilgerfahrt in die goldene Stadt. Die römischen Soldaten haben alle Hände voll zu tun, die Bevölkerung in Schach zu halten, die Politiker fürchten sich vor Aufständen des jüdischen Volkes gegen seine Besatzer. Es herrscht eine angespannte Stimmung in der ganzen Stadt und weil der Schabbat vor der Tür steht, muss alle Arbeit bis zum Sonnenuntergang erledigt werden – auch die militärischen und politischen Arbeiten, zu denen die Verurteilungen und Kreuzigungen von Verbrechern zählen. Deshalb hat der Stadthalter Pontius Pilatus nicht viel Zeit, sich mit den Gefangenen lange auseinanderzusetzen. Und so verurteilt er unter lauten Zurufen und geschrienen Kommentaren der schaulustigen Menschen angeführt vom Hohenrat einen unschuldigen Mann zu einem langsamen und schmerzvollen Tod am Kreuz.1Mt 27,11-26; Mk 15,2-15; Lk 23,1-25; Joh 18,28-40
Dieser Mann heißt Yeschua, Jesus von Nazareth wird er auch genannt, der Prediger und Prophet, der in den letzten drei Jahren durch das ganze Land gezogen ist, der unzählige Menschen heilte, Dämonen austrieb, dem starren System der Religion immer wieder widersprach und sich mit dem Hohenrat anlegte, der das Königreich Gottes auf der Erde ankündigte.

Wer ist dieser Mann? Das fragen sich wohl viele der Umstehenden, die dabei zusehen, wie Jesus ausgepeitscht wird mit einer römischen Peitsche, die mit Knochen- und Eisenstücken an den Riemen besetzt ist, bis sein Rücken nicht mehr als solcher zu erkennen ist. Wer ist dieser Mann, fragen sich diejenigen, die dabei zusehen, wie er sein Kreuz, sein eigenes Folter- und Todesinstrument, mit letzten Kräften durch die Straßen Jerusalems ziehen muss. Wer ist dieser Mann, der so ruhig und entschlossen seinem eigenen, qualvollen Tod entgegengeht, ohne nach einem Ausweg zu suchen oder um Gnade zu flehen? Wer ist dieser Mann?2Mt 27,26-34; Mk 15,15-21; Lk 23,25-32; Joh 19,1-17

Manche der Umstehenden, unter denen auch die Jünger Jesu sind, erinnern sich bei dem blutigen und einfach nur grausamen Bild, das sich ihnen bietet, vielleicht an die Worte von Johannes dem Täufer. Der Cousin Jesu war selbst Prediger, hat zu Umkehr und Buße aufgerufen und den Messias, den Retter Israels, angekündigt, der nach ihm kommen würde. Eines Morgens, ganz zu Beginn des Wirkens Jesu sah Johannes ihn und rief: „Seht her, da ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!“3Joh 1,29, ELB
Für manche Zuhörer ergab diese Aussage in dem Moment wohl keinen Sinn. Aber bei Vielen muss ein Glöckchen im Hinterkopf geklingelt haben… Hatten sie nicht ähnliche Worte schon mal gehört – in der Synagoge? Aber… Konnte das sein? Warum griff Johannes gerade jetzt diese so bewegende und gleichzeitig verwirrende Prophetie von Jesaja auf? Denn Jesaja hatte als Prophet Gottes im 8. Jahrhundert vor Jesu Geburt vorausgesagt, dass der Messias, der Christus ein leidender Knecht sein würde. Und nun bezog sich Johannes der Täufer auf diese jahrhundertealte Prophetie, die zwar immer wieder gelesen, aber nie verstanden wurde:

(52,13) Sieh, mein Diener wird sein Ziel erreichen. Er wird sich erheben und emporgehoben werden. Er wird erhaben sein. (14) Er war so entstellt, dass sein Aussehen kaum mehr dem eines Menschen glich und viele waren entsetzt, als sie ihn sahen. (15) Ebenso wird er viele Völker in Staunen versetzen. Seinetwegen werden Könige verstummen. Denn sie sehen etwas, was ihnen nie zuvor verkündigt wurde; sie nehmen etwas wahr, wovon sie noch nie gehört hatten. (53,1) Wer hat unserer Botschaft geglaubt? Wem wurde der mächtige Arm des Herrn offenbart? (2) Er wuchs vor ihm auf wie ein Spross; er entsprang wie eine Wurzel aus trockenem, unfruchtbarem Land. Sein Äußeres war weder schön noch majestätisch, er hatte nichts Gewinnendes, das uns gefallen hätte. (3) Er wurde verachtet und von den Menschen abgelehnt – ein Mann der Schmerzen, mit Krankheit vertraut, jemand, vor dem man sein Gesicht verbirgt. Er war verachtet und bedeutete uns nichts. (4) Dennoch: Er nahm unsere Krankheiten auf sich und trug unsere Schmerzen. Und wir dachten, er wäre von Gott geächtet, geschlagen und erniedrigt! (5) Doch wegen unserer Vergehen wurde er durchbohrt, wegen unserer Übertretungen zerschlagen. Er wurde gestraft, damit wir Frieden haben. Durch seine Wunden wurden wir geheilt! (6) Wir alle gingen in die Irre wie Schafe. Jeder ging seinen eigenen Weg. Doch ihn ließ der Herr die Schuld von uns allen treffen. (7) Er wurde misshandelt und niedergedrückt und gab keinen Laut von sich. Wie ein Lamm, das zum Schlachten geführt wird, und wie ein Schaf vor seinem Scherer verstummt, so machte auch er den Mund nicht auf. (8) Er wurde aus der Haft und dem Gericht genommen, aber wen aus seinem Volk stimmte es nachdenklich, dass er aus den Lebenden gerissen und wegen der Vergehen meines Volkes geschlagen wurde? (9) Zwar wies man ihm ein Grab unter Sündern zu, doch wurde er in das Grab eines reichen Mannes gelegt, weil er kein Unrecht getan hatte und kein Betrüger war. (10) Doch es war der Wille des Herrn, ihn leiden zu lassen und zu vernichten. Wenn sein Leben jedoch als Opfer für die Sünde dargebracht wird, wird er viele Nachfolger haben. Er wird lange leben und die Absichten des Herrn werden durch seine Hand gedeihen. (11) Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er sich dann an dem, was er zu sehen bekommt, erfreuen. Durch seine Erkenntnis wird mein gerechter Diener Gerechtigkeit für viele erwirken, denn er wird ihre Sünden auf sich nehmen. (12) Deshalb werde ich ihm seinen Anteil unter den Großen geben; mit Mächtigen wird er Beute teilen, denn er hat sein Leben geopfert und sich zu den Sündern zählen lassen. Tatsächlich aber hat er die Sünden vieler getragen und ist für die Sünder eingetreten. (Jes 52,13-53,12, ELB)

Als Johannes der Täufer Jesus sah, rief er: „Seht her, da ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!“ Johannes wusste ganz genau, wer dieser so bescheiden auftretende Mann ist: Er ist der leidende Gottesknecht, den Jesaja in seiner Vision fast 800 Jahre zuvor gesehen hatte; er ist der Messias, der Christus, der Sohn Gottes. Johannes wusste, dass Jesus als Gott Mensch geworden und so in die gefallen Welt eingetreten war, um die Prophetie Jesajas zu erfüllen.

Heute ist ein ganz besonderer Tag! Denn heute feiern wir Karfreitag, aber wir befinden uns auch mitten in der jüdischen Festwoche um das Passah-Fest herum, die vor wenigen Tagen begonnen hat.4In diesem Jahr 2023 war der Seder-Abend, den Jesus mit seinen Jüngern vor dem Abendmahl gefeiert hat, am Mittwoch. Und so werden wir zurückversetzt zu dem Zeitpunkt, an dem wir unsere Zeitreise begonnen haben. Jesus feierte am Abend vor seinem Tod mit seinen Jüngern und besten Freunden das Passah-Fest. Traditionell wird am ersten Abend eine Lammkeule auf die Festtafel gelegt. So erinnern sich die Juden an das Lamm, das damals in Ägypten geschlachtet wurde und dessen Blut sie vor dem Todesengel bewahrte. Doch ist es nicht dabei geblieben. Denn dieses Bild des geschlachteten Lammes ist kein totes Symbol für eine längst vergangene Tat Gottes. Nein, es ist ein Symbol geworden für das Machtvollste, das je auf dieser Erde geschehen ist und wovon die Israeliten in Jerusalem vor 2000 Jahren Zeuge sein durften: Jesus, der ganz Mensch und ganz Gott ist, lässt sich still und ohne Gegenwehr verurteilen, obwohl er ohne Schuld ist; Jesus lässt sich unter größten Schmerzen auspeitschen ohne ein einziges Widerwort; Jesus trägt sein Kreuz mit letzten Kräften zur Stätte seiner Hinrichtung – Golgotha, die Schädelstätte, kurz hinter der Stadtmauer Jerusalems; Jesus lässt sich dort an das Kreuz nageln und gen Himmel aufrichten. Und dort hängt er, Stunde um Stunde in der Mittagshitze, und schaut auf die Menschen hinab, die ihn verhöhnen, ihn beschimpfen, um ihn weinen, darauf warten, dass er stirbt. Der Sohn Gottes sieht hinab auf die Menschen, die er so sehr liebt und die zu retten er gekommen ist. Doch wird Jesus in diesen grausamen Stunden nicht bloß gedemütigt, nein, er durchlebt den größten Schmerz, den wir uns nicht einmal ausmalen können: Denn in diesen Momenten trägt der Sohn Gottes die Sünde und Schuld eines jeden Menschen, jede unserer Krankheiten, jeden seelischen wie auch körperlichen Schmerz. Alles Furchtbare lastet auf den Schultern dieses Mannes. Er empfindet die kaum zu ermessende Angst einer Menschheit, die in Sünde verstrickt orientierungslos in der Trennung ihres Schöpfers lebt. Jede Furcht, jede Frage, jeder Zweifel lastet auf ihm. Und so kann er nicht anders, als kurz vor seinem Tod voll der Verzweiflung seiner geliebten Schöpfung nicht anders, als Gott, dem Vater zuzuschreien: „Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“5Dabei zitiert Jesus Ps 22,2 (hier ELB), den David einst prophetisch schrieb.
Und dann… ist es vorbei. Als Jesus seinen letzten Atemzug tut, stirbt nicht einfach ein Prophet – es stirbt der Sohn Gottes und damit Gott selbst. Er gibt sein Leben freiwillig hin für die, die er liebt. Und damit begleicht er als einziges sündloses Wesen stellvertretend jede Schuld, die ein Mensch je auf sich geladen haben wird. Jesus Christus wird zum Passah-Lamm, das die Sünde der Welt wegnimmt.

In dem Moment, als Jesus als vollkommenes Passah-Lamm sein Leben hingibt als Schuldopfer für alle Menschen, die es annehmen wollen, geschieht etwas von kosmischen Ausmaßen, was sich auf gewaltige Art und Weise zeigt: Wie aus dem Nichts zieht sich der Himmel zu, die Sonne wird von Gewitterwolken verdeckt, ein Sturm bricht los. Die Erde beginnt zu beben, Gräber öffnen sich. Aber das Bahnbrechendste geschieht im Inneren des Tempels: Denn dort gibt es einen Bereich im Innersten des Tempels, in dem einst die Gegenwart Gottes wohnte. Das Allerheiligste wird er genannt, denn niemand darf diesen Bereich betreten – nur der Hohepriester darf ein Mal im Jahr hinein, um ein Opfer zu einem wichtigen Fest zu bringen. Das Allerheiligste ist durch einen Vorhang abgetrennt, der keinen einzigen Millimeter freilässt und mehrere Zentimeter dick ist. Dieser Vorhang trennt eine sündhafte und schuldbeladene Menschheit von dem heiligen, reinen und gerechten Gott. In der Sekunde, in der der Sohn Gottes am Kreuz stirbt, reißt dieser feste Vorhang wie von selbst von oben bis unten durch. Die Trennung zwischen Mensch und Gott, die wir durch unsere Sünde hervorgerufen hatten, ist durch diese absolut einmalige Tat Gottes überwunden. Gott selbst macht den Weg frei für eine Beziehung mit ihm, so wie es sie einst im Garten Eden gab. Was für eine grenzenlose Liebe treibt diesen Gott an, alles hinzugeben, um uns bei sich zu haben!

Was verbindest Du mit Karfreitag? Heute erinnern wir uns an den einzigartigen Tag vor fast 2000 Jahren, der nichts von seiner Gültigkeit oder Bedeutung verloren hat. Heute erinnern wir uns an die grenzenlose und leidenschaftliche Liebe unseres Gottes, der Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hat, um uns zurückzugewinnen. Für uns als Leib Christi ist Karfreitag der Tag der Wiederherstellung, der Versöhnung mit Gott, die Jesus Christus, unser vollkommenes Passah-Lamm, vollbracht hat. Karfreitag ist die Einladung Gottes an uns Menschen, in die Beziehung zu ihm zurückzukehren. Er hat in Jesus den Weg dafür frei gemacht – wir müssen dieses Opfer bloß annehmen. Und so stellt Karfreitag die eine, bedeutende Frage an jeden Menschen: Wer ist dieser Mann – für Dich?

Wenn Du den Text anhören möchtest, findest Du hier eine Audioversion mit Bildern auf YouTube :-)

 

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    Mt 27,11-26; Mk 15,2-15; Lk 23,1-25; Joh 18,28-40
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    Mt 27,26-34; Mk 15,15-21; Lk 23,25-32; Joh 19,1-17
  • 3
    Joh 1,29, ELB
  • 4
    In diesem Jahr 2023 war der Seder-Abend, den Jesus mit seinen Jüngern vor dem Abendmahl gefeiert hat, am Mittwoch.
  • 5
    Dabei zitiert Jesus Ps 22,2 (hier ELB), den David einst prophetisch schrieb.
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